P. Kamber: Reformation als bäuerliche Revolution

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Titel
Reformation als bäuerliche Revolution. Bildersturm, Klosterbesetzung und Kampf gegen die Leibeigenschaft in Zürich zur Zeit der Reformation (1522-1525)


Autor(en)
Kamber, Peter
Erschienen
Zürich 2010: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
501 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Fabian Brändle, Zürich

Die Reformationsforschung «von unten» hat dank der Impulse Bob Scribners, Peter Blickles, Susan Karant-Nunns und anderer in den letzten zwanzig Jahren die an sich eher konservative Geschichtsschreibung dieser Epoche sehr bereichert. Nicht die Ideen der grossen Theologen, nicht die Ränke der Fürsten und Ratsherren stehen dabei im Vordergrund, sondern die Bestrebungen der «einfachen Leute», sich ihres Heils zu vergewissern im Wettstreit der entstehenden Konfessionen. Die zu besprechende, ausgezeichnete Dissertation Peter Kambers setzt diese Tradition für die Schweiz fort, eine Tradition, die in Bern dank Blickles Anregungen schon viele Früchte eingebracht hat. Entstanden noch in den 1980er Jahren, konnte diese wichtige, äusserst quellenreiche und auch quellennahe Arbeit nun endlich erscheinen und die Forschung bereichern.

Wie der Titel der Abhandlung schon besagt, versteht der ausgezeichnete Stilist Kamber (auch schon hervorgetreten als Schriftsteller) die turbulenten Ereignisse im Zürich der frühen 1520er Jahre als «bäuerliche Revolution », nicht weniger revolutionär (wenn auch weniger gewaltdurchtränkt) als die Vorgänge im deutschen Bauernkrieg. Tatsächlich waren Ideen und Praktiken vieler Bauern und Bäuerinnen radikal und stellten die Vorherrschaft der Stadt in Frage. Aufgrund des von Luther fixierten Schriftprinzips begannen die Untertanen, schon bald nach den ersten reformatorischen Predigten Zwinglis die Bibel zu lesen und eigensinnig zu interpretieren. In mehrheitlich analphabetischen Milieus fanden sich zudem Vorleser in Wirtshäusern. So verweigerten gewisse Untertanen, ermutigt von radikalen Predigern, den Zehnten und sogar den Kriegsdienst in gefährlichen Zeiten. Dies bedrohte die Ratsherrschaft über das Territorium, und so ist es aus der Perspektive der Stadt verständlich, dass sich Zwingli bald mit der eher konservativeren Ratsfraktion verbündete, um gegen die radikalen Zehntverweigerer und die sich schnell bildenden Täufergemeinden resolut vorzugehen.

Der Autor spricht von den Evangelien als einer Art «Befreiungstheologie» (u.a. 122), die sich in den kollektiven Widerstandshandlungen von 1524 und 1525 manifestierte. Tatsächlich befreite die neue Interpretation der Bibel die Gläubigen nicht nur von gewissen Feudallasten, sondern auch von der Entrichtung von Löhnen für die zahllosen Priester und Mönche, die in Stadt und Land wirkten. Natürlich waren die Chorherren des Grossmünsters mehrheitlich Gegner der Reformation. Befreiend wirkte aber wohl auch die Hinwendung zu einem gnädigen Gott, der nicht dauernd mit Werken, Ablässen und Wallfahrten beschwichtigt werden musste. So lässt die Bibel auch eine radikal herrschaftskritische Lektüre zu, bei allen Gehorsam und Demut einfordernden Passagen. Dies hat bekanntlich den englischen Historiker Sir Christopher Hill (1912–2003) bereits vor Jahrzehnten dazu bewogen, ein Buch zu schreiben mit dem vielsagenden Titel The English Bible and the Seventeenth-Century Revolution.

Sehr interessant sind indessen auch Kambers akribische, dicht beschriebene Rekonstruktionen der popularen Bilderstürme und der Klosterbesetzungen wie dem für die Mönche bedrohlichen und auch demütigenden «Ittinger Sturm» (18./19. Juli 1524, verbunden mit einem symbolträchtigen Fischessen). So begegnen wir auch Bauern, die heftig darüber diskutieren, ob die hölzerne Figur eines Palmesels in der Kirche Platz haben dürfe oder aus dem sakralen Raum entfernt werden solle: «Er, Hans Dachmann und Claus Unholtz habint den Esel uss der Kilchen than und gmeint, es schüd nüdt, denn sy etwan habint gehört bieten uff den Esel, wer ihn hinuss tät. Ere hab och den Esel helffen in Se thuon.» (157).

Mit Gewinn verwendet der Autor neben chronikalischen Quellen auch Gerichtsprotokolle. Er kennt aber auch den Kanon theologischer Texte sehr genau und kann unter anderem Zwinglis Abkehr von einem früh formulierten Widerstandsrecht neu deuten.

«Die Bauern waren keine passiven Subjekte der Reformationsgeschichte» (446). Mit seinem Blick auf die ländlichen Verhältnisse erhellt Kamber die neue errungene und erlesene «Witzigkeit» bäuerlicher Schichten gegenüber den städtischen Oberschichten. Nicht alle Bauern waren indessen Befürworter der neuen Lehre, was sich sehr schön an Quellen zu Debatten über den Bildersturm zeigt. Manche zögerten, andere hingen unverdrossen der alten Lehre an. So erfährt die Leserschaft die Konfliktträchtigkeit der Epoche nicht nur «gegen oben», sondern auch innerhalb der bäuerlichen Gemeinden und «communities». Der Höngger Erhart Grossmann erzählte etwa, Zwingli sei «ein verlogner Buob» (333), andere deuteten ihre Kritik aus Angst vor Strafe nur vorsichtig an. In Meilen kam es, um ein weiteres Beispiel anzufügen, zu erbitterten Protesten und gar Morddrohungen, als die beiden Pfarrer das Konkubinat aufgaben und heirateten.

Insgesamt bereichert Peter Kambers umfangreiche Dissertation die Reformationsgeschichte nicht nur der Schweiz. Dem Werk ist daher eine internationale Rezeption zu wünschen. Es zeigt auf, wie selbst in einem vermeintlich abgegrasten Feld wie der (Zürcher) Reformationsgeschichte noch vieles brach liegt. Unkonventionelle Fragestellungen und ein langer Atem verhelfen jedenfalls den revolutionären Ereignissen um 1524/25 zu ihrem Recht, wenn auch die Gewinner der Reformation zumindest auf den ersten Blick im Zürcher Rathaus sassen, sich die Abhängigkeit der Landschaft von der Stadt über die lange Zeitdauer klar verschärfte und trotz verschiedener Aufstände, «Händel», Reibereien und Konflikte bis zum Revolutionsjahr 1798 anhalten sollte.

Zitierweise:
Fabian Brändle: Rezension zu: Peter Kamber, Reformation als bäuerliche Revolution. Bildersturm, Klosterbesetzungen und Kampf gegen die Leibeigenschaft in Zürich zur Zeit der Reformation, Zürich, Chronos Verlag, 2010. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 106, 2012, S. 687-689.

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